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(1975) Logische Untersuchungen. Erster Band, Den Haag, Nijhoff.

Die Logik als normative und speziell als praktische Disziplin

Edmund Husserl

pp. 25-43

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Husserl, E. (1975). Die Logik als normative und speziell als praktische Disziplin, in Logische Untersuchungen. Erster Band, Den Haag, Nijhoff, pp. 25-43.

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Die Logik als normative und speziell als praktische Disziplin Husserl Edmund; Originally prepared by 100102 Revised and edited by 100102 1975

§ 4. Die theoretische Unvollkommenheit der Einzelwissenschaften

15| Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Vorzüglichkeit, mit der ein Künstler seinen Stoff meistert, und daß das entschiedene und oft sichere Urteil, mit dem er Werke seiner Kunst abschätzt, nur ganz ausnahmsweise auf einer theoretischen Erkenntnis der Gesetze beruht, welche dem Verlauf der praktischen Betätigungen10| ihre Richtung und Anordnung vorschreiben und zugleich die wertenden Maßstäbe bestimmen, nach denen die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des fertigen Werkes abzuschätzen ist. In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Prinzipien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben15| vermag. Er schafft nicht nach Prinzipien und wertet nicht nach Prinzipien. Schaffend folgt er der inneren Regsamkeit seiner harmonisch gebildeten Kräfte, und urteilend dem fein ausgebildeten künstlerischen Takt und Gefühl. So verhält es sich aber nicht allein bei den schönen Künsten, an die man zunächst20| gedacht haben mag, sondern bei den Künsten überhaupt, das Wort im weitesten Sinne genommen. Es trifft also auch die Betätigungen des wissenschaftlichen Schaffens und die theoretische Schätzung seiner Ergebnisse, der wissenschaftlichen Begründungen von Tatsachen,[A 10] Gesetzen, Theorien. Selbst der Mathe25|matiker,[B 10] Physiker und Astronom bedarf zur Durchführung auch der bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen nicht der Einsicht in die letzten Gründe seines Tuns, und obschon die gewonnenen Ergebnisse für ihn und andere die Kraft vernünftiger Überzeugung besitzen, so kann er doch nicht den Anspruch erheben,26 überall die letzten Prämissen seiner Schlüsse nachgewiesen und die Prinzipien, auf denen die Triftigkeit seiner Methoden beruht, erforscht zu haben. Damit aber hängt der unvollkommene Zustand aller Wissenschaften zusammen. Wir meinen hier nicht die5| bloße Unvollständigkeit, mit der sie die Wahrheiten ihres Gebietes erforschen, sondern den Mangel an innerer Klarheit und Rationalität, die wir unabhängig von der Ausbreitung der Wissenschaft fordern müssen. In dieser Hinsicht darf auch die Mathematik, die fortgeschrittenste aller Wissenschaften, eine Ausnah10|mestellung nicht beanspruchen. Vielfach gilt sie noch als das Ideal aller Wissenschaft überhaupt; aber wie wenig sie dies in Wahrheit ist, lehren die alten und noch immer nicht ┌endgültig┐1 erledigten Streitfragen über die Grundlagen der Geometrie, so wie die nach den ┌berechtigten┐2 Gründen der Methode des Imagi15|nären. Dieselben Forscher, die mit unvergleichlicher Meisterschaft die wundervollen Methoden der Mathematik handhaben und sie um neue bereichern, zeigen sich oft gänzlich unfähig, von der logischen Triftigkeit dieser Methoden und den Grenzen ihrer berechtigten Anwendung ausreichende Rechenschaft zu geben. Ob20|schon nun die Wissenschaften trotz dieser Mängel groß geworden sind und uns zu einer früher nie geahnten Herrschaft über die Natur verholfen haben, so können sie uns doch nicht theoretisch Genüge tun. Sie sind nicht kristallklare Theorien, in denen die Funktion aller Begriffe und Sätze völlig begreiflich, alle Voraus25|Setzungen genau analysiert, und somit das Ganze über jeden theoretischen Zweifel erhaben wäre.

[A 11][B 11]

§ 5. Die theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften durch Metaphysik und Wissenschaftslehre

2Um dieses theoretische Ziel zu erreichen, bedarf es, wie ziemlich30| allgemein anerkannt ist, fürs erste einer Klasse von Untersuchungen, die in das Reich der Metaphysik gehören.

3Die Aufgabe derselben ist nämlich, die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Voraussetzungen metaphysischer Art zu fixieren und zu prüfen, die mindestens27allen Wissenschaften, welche auf die reale Wirklichkeit gehen, zugrunde liegen. Solche Voraussetzungen sind z.B., daß es eine Außenwelt gibt, welche nach Raum und Zeit ausgebreitet ist, wobei der Raum den mathematischen Charakter einer dreidimen5|sionalen Euklidischen, die Zeit den einer eindimensionalen orthoiden Mannigfaltigkeit hat; daß alles Werden dem Kausalitätsgesetz unterliegt usw. Unpassend genug pflegt man diese durchaus in den Rahmen der Ersten Philosophie des Aristoteles gehörigen Voraussetzungen gegenwärtig als erkenntnistheoreti10|sche zu bezeichnen.

4Diese metaphysische Grundlegung reicht aber nicht aus, um die gewünschte theoretische Vollendung der Einzelwissenschaften zu erreichen; sie betrifft ohnehin bloß die Wissenschaften, welche es mit der realen Wirklichkeit zu tun haben, und das tun doch15| nicht alle, sicher nicht die rein mathematischen Wissenschaften, deren Gegenstände Zahlen, Mannigfaltigkeiten u. dgl. sind, die unabhängig von realem Sein oder Nichtsein als bloße Träger rein idealer Bestimmungen gedacht sind. Anders verhält es sich mit einer zweiten Klasse von Untersuchungen, deren theoretische20| Erledigung ebenfalls ein unerläßliches Postulat unseres Erkennt-nisstrebens bildet; sie gehen alle Wissenschaften in gleicher Weise an, weil sie, kurz gesagt, auf das gehen, was Wissenschaften überhaupt zu Wissenschaften macht. Hierdurch aber ist das Gebiet einer neuen und, wie sich alsbald zeigen wird, komplexen25| Disziplin bezeichnet, deren Eigentümliches es[B 12] ist, Wissenschaft von[A 12] der Wissenschaft zu sein, und die eben darum am prägnantesten als Wissenschaftslehre zu benennen wäre.

§ 6. Die Möglichkeit und Berechtigung einer Logik als Wissenschaftslehre

530|Die Möglichkeit und die Berechtigung einer solchen Disziplin — als einer zur Idee der Wissenschaft gehörigen normativen und praktischen Disziplin — kann durch folgende Überlegung begründet werden.

6Wissenschaft geht, wie der Name besagt, auf Wissen. Nicht als35| ob sie selbst eine Summe oder ein Gewebe von Wissensakten wäre. Objektiven Bestand hat die Wissenschaft nur in ihrer Literatur, nur in der Form von Schriftwerken hat sie ein eigenes, wenn auch28zu dem Menschen und seinen intellektuellen Betätigungen beziehungsreiches Dasein; in dieser Form pflanzt sie sich durch die Jahrtausende fort und überdauert die Individuen, Generationen und Nationen. Sie repräsentiert so eine Summe äußerer Veran5|staltungen, die, wie sie aus Wissensakten vieler Einzelner hervorgegangen sind, wieder in eben solche Akte ungezählter Individuen übergehen können, in einer leicht verständlichen, aber nicht ohne Weitläufigkeiten exakt zu beschreibenden Weise. Uns genügt hier, daß die Wissenschaft gewisse nähere Vorbedingungen für die10| Erzeugung von Wissensakten beistellt bzw. beistellen soll, reale Möglichkeiten des Wissens, deren Verwirklichung von dem "normalen" bzw. "entsprechend begabten" Menschen unter bekannten "normalen" Verhältnissen als ein erreichbares Ziel seines Wollens angesehen werden kann. In diesem Sinne also zielt die15| Wissenschaft auf Wissen.

7Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus; denn nicht jedes richtige Urteil, jede mit der Wahrheit überein20|stimmende Setzung oder Verwerfung eines[B 13] Sachverhalts ist ein Wissen vom[A 13] Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts. Dazu gehört vielmehr — soll von einem Wissen im engsten und strengsten Sinne die Rede sein — die Evidenz, die lichtvolle Gewißheit, daß ist, was wir anerkannt, oder nicht ist, was wir verworfen25| haben; eine Gewißheit, die wir in bekannter Weise scheiden müssen von der blinden Überzeugung, vom vagen und sei es noch so fest entschiedenen Meinen, wofern wir nicht an den Klippen des extremen Skeptizismus scheitern sollen. Bei diesem strengen Begriffe des Wissens bleibt die gemeinübliche Redeweise aber30| nicht stehen. Wir sprechen z.B. von einem Wissensakt auch da, wo mit dem gefällten Urteil zugleich die klare Erinnerung verknüpft ist, daß wir früher ein von Evidenz begleitetes Urteil identisch desselben Gehaltes gefällt haben, und besonders, wo die Erinnerung auch einen beweisenden Gedankengang betrifft, aus35| dem diese Evidenz hervorgewachsen ist und den zugleich mit dieser Evidenz wiederzuerzeugen wir uns mit Gewißheit Zutrauen. ("Ich weiß, daß der Pythagoräische Lehrsatz ┌wahr ist┐3 — ich29kann ihn beweisen"; statt des letzteren kann es allerdings auch heißen: — "aber ich habe den Beweis vergessen.")

8So fassen wir überhaupt den Begriff des Wissens in einem weiteren, aber doch nicht ganz laxen Sinne; wir scheiden ihn ab5| von dem grundlosen Meinen und beziehen uns hierbei auf irgendwelche "Kennzeichen" für ┌das Bestehen┐4 des angenommenen Sachverhalts bzw. für die Richtigkeit des gefällten Urteils. Das vollkommenste Kennzeichen der Richtigkeit ist die Evidenz, es gilt uns als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst. In10| der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir dieser absoluten Erkenntnis der Wahrheit, statt ihrer dient uns (man denke nur an die Funktion des Gedächtnisses in den obigen Beispielen) die Evidenz für die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts, an welche sich bei entsprechend "er15|heblichen" Wahrscheinlichkeitsgraden das fest entschiedene Urteil anzuschließen pflegt. Die Evidenz der Wahrscheinlichkeit eines Sachver[A 14]halts A begründet zwar nicht die Evidenz seiner Wahrheit,[B 14] aber sie begründet jene vergleichenden und evidenten Wertschätzungen, vermöge deren wir je nach den positiven oder20| negativen Wahrscheinlichkeitswerten vernünftige von unvernünftigen, besser begründete von schlechter begründeten Annahmen, Meinungen, Vermutungen zu scheiden vermögen. Im letzten Grunde beruht also jede echte und speziell jede wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz, und so weit die Evidenz reicht, so weit25| reicht auch der Begriff des Wissens.

9Trotzdem bleibt eine Doppelheit im Begriff des Wissens (oder was uns als gleichbedeutend gilt: der Erkenntnis) bestehen. Wissen im engsten Sinne des Wortes ist Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt ┌ besteht oder nicht besteht┐5; z.B. daß S P30| ist oder nicht ist; also ist auch die Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt in dem oder jenem Grade wahrscheinlich ist, in Beziehung darauf, daß er dies ist, ein Wissen im engsten Sinne; dagegen liegt hier in Beziehung auf ┌den Bestand┐6 des Sachverhaltes selbst (und nicht seiner Wahrscheinlichkeit) ein Wissen35| im weiteren, geänderten Sinne vor. In diesem letzteren spricht30 man, den Wahrscheinlichkeitsgraden entsprechend, von einem bald größeren, bald geringeren Ausmaß von Wissen, und es gilt das Wissen im prägnanteren Sinne — die Evidenz davon, daß S P sei — als die absolut feste, ideale Grenze, der sich die Wahr5|scheinlichkeiten für das P-Sein des S in ihrer Steigerungsfolge asymptotisch annähern.7

10Zum Begriff der Wissenschaft und ihrer Aufgabe gehört nun aber mehr als bloßes Wissen. Wenn wir innere Wahrnehmungen, einzeln oder gruppenweise, erleben und als daseiend anerkennen,10| so haben wir Wissen, aber noch lange nicht Wissenschaft. Und nicht anders verhält es sich mit zusammenhangslosen Gruppen von Wissensakten überhaupt. Zwar Mannigfaltigkeit des Wissens, aber nicht ┌bloße┐8 Mannigfaltigkeit will die Wissenschaft uns geben. Auch die sachliche Verwandtschaft macht noch nicht die15| ihr eigentümliche Einheit in der Mannigfaltigkeit des Wissens aus. Eine Gruppe vereinzelter[A 15] chemischer Erkenntnisse würde gewiß nicht die Rede von einer chemischen Wissenschaft berech[B 15]tigen. Offenbar ist mehr erfordert, nämlich systematischer Zusammenhang im theoretischen Sinne, und darin liegt20| Begründung des Wissens und gehörige Verknüpfung und Ordnung in der Folge der Begründungen.

11Zum Wesen der Wissenschaft gehört also die Einheit des Begründungszusammenhanges, in dem mit den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und mit diesen auch die25| höheren Komplexionen von Begründungen, die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erhalten. Ihr Zweck ist es eben, nicht Wissen schlechthin, sondern Wissen in solchem Ausmaße und in solcher Form zu vermitteln, wie es unseren höchsten theoretischen Zielen in möglichster Vollkommenheit entspricht.

1230|Daß uns die systematische Form als die reinste Verkörperung der Idee des Wissens erscheint, und daß wir sie praktisch anstreben, darin äußert sich nicht etwa ein bloß ästhetischer Zug unserer Natur. Die Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architektonischen Spiels sein. Die Systematik, die der35| Wissenschaft eignet, natürlich der echten und rechten Wissenschaft, erfinden wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir31 sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar in größtmöglichem Umfange, zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm Einheit der5| Gesetzlichkeit; und so muß auch die Erforschung und Darlegung der Wahrheiten systematisch sein, sie muß deren systematische Zusammenhänge widerspiegeln und sie zugleich als Stufenleiter des Fortschrittes benützen, um von dem uns gegebenen oder bereits gewonnenen Wissen aus in immer höhere Regionen des10| Wahrheitsreiches eindringen zu können.

13Dieser hilfreichen ┌Stufenleiter┐9 kann sie nicht entraten. Die Evidenz, auf der schließlich alles Wissen beruht, ist nicht eine natürliche Beigabe, die sich mit der bloßen Vorstellung[A 16] der Sachverhalte und ohne jede methodisch-künstlichen Veranstal15|tungen[B 16] einfindet. Anderenfalls wären die Menschen auch nie darauf verfallen, Wissenschaften aufzubauen. Methodische Umständlichkeiten verlieren ihren Sinn, wo mit der Intention schon der Erfolg gegeben ist. Wozu die Begründungsverhältnisse erforschen und Beweise konstruieren, wenn man der Wahrheit in20| unmittelbarem Innewerden teilhaftig wird? Faktisch stellt sich aber die Evidenz, die den vorgestellten Sachverhalt als ┌beste-hend┐10, bzw. die Absurdität, die ihn als ┌nicht bestehend┐3 stempelt (und ähnlich in Hinsicht auf Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit), nur bei einer relativ höchst beschränkten25| Gruppe primitiver Sachverhalte unmittelbar ein; unzählige wahre Sätze erfassen wir als Wahrheiten nur dann, wenn sie methodisch "begründet" werden, d.h. in diesen Fällen stellt sich im bloßen Hinblick auf den Satzgedanken, wenn überhaupt urteilsmäßige Entscheidung, so doch nicht Evidenz ein; aber es stellt sich, ge30|wisse normale Verhältnisse vorausgesetzt, beides zugleich ein, sowie wir von gewissen Erkenntnissen ausgehen und dann einen gewissen Gedankenweg zu dem intendierten Satze einschlagen. Es mag für denselben Satz mannigfaltige Begründungswege geben, die einen von diesen, die anderen von jenen Erkenntnissen35| auslaufend; aber charakteristisch und wesentlich ist der Umstand,32 daß es unendliche Mannigfaltigkeiten von Wahrheiten gibt, die ohne dergleichen methodische Prozeduren nimmermehr in ein Wissen verwandelt werden können.

14Und daß es sich so verhält, daß wir Begründungen brauchen,5| um in der Erkenntnis, im Wissen über das unmittelbar Evidente und darum Triviale hinauszukommen, das macht nicht nur Wissenschaften möglich und nötig, sondern mit den Wissenschaften auch eine Wissenschaftslehre, eine Logik. Verfahren alle Wissenschaften methodisch im Verfolge der Wahrheit,10| haben sie alle mehr oder minder künstliche Hilfsmittel in Gebrauch, um Wahrheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten, die sonst verborgen blieben, zur Erkenntnis zu bringen, und um das Selbstverständ|liche oder bereits Gesicherte als Hebel zu nützen für die [A 17] Erreichung von Entlegenem, nur mittelbar Erreichbarem: dann15| dürfte doch die[B 17] vergleichende Betrachtung dieser methodischen Hilfen, in denen die Einsichten und Erfahrungen ungezählter Forschergenerationen aufgespeichert sind, Mittel an die Hand geben, um allgemeine Normen für solche Verfahrungsweisen aufzustellen und desgleichen auch Regeln für die erfindende Kon20|struktion derselben je nach den verschiedenen Klassen von Fällen.

§ 7. Fortsetzung. Die drei bedeutsamsten Eigentümlichkeiten der Begründungen

15Überlegen wir, um etwas tiefer in die Sache zu dringen, die bedeutsamsten Eigentümlichkeiten dieser merkwürdigen Gedan25|kenverläufe, die wir Begründungen nennen.

16Sie haben, um auf ein Erstes hinzuweisen, in Beziehung auf ihren Gehalt den Charakter fester Gefüge. Nicht können wir, um zu einer gewissen Erkenntnis, z.B. der des Pythagoräischen Lehrsatzes, zu gelangen, ganz beliebige aus den unmittelbar gegebenen30| Erkenntnissen zu Ausgangspunkten wählen, und nicht dürfen wir im weiteren Verlaufe beliebige Gedankenglieder einfügen und ausschalten: soll die Evidenz des zu begründenden Satzes wirklich aufleuchten, die Begründung also wahrhaft Begründung sein.

17Noch ein Zweites merken wir alsbald. Von vornherein, d.h.35| vor dem vergleichenden Hinblick auf die Beispiele von Begründungen, die uns von überall her in Fülle Zuströmen, möchte es als denkbar erscheinen, daß jede Begründung nach Gehalt und Form33 ganz einzigartig sei. Eine Laune der Natur — dies dürften wir zunächst wohl für einen möglichen Gedanken halten — könnte unsere geistige Konstitution so eigensinnig gebildet haben, daß die uns jetzt so vertraute Rede von mannigfachen Begründungs5|formen eines jeden Sinnes bar und als Gemeinsames bei der Vergleichung irgendwelcher Begründungen immer nur das eine zu konstatieren wäre: Daß eben ein Satz S, der für sich evidenzlos ist, den Charakter der Evidenz er|hält, wenn er im Zusammen- [A 18] hang auftritt mit gewissen, ihm ohne jedes rationale Gesetz ein 10|[B 18] für allemal zugeordneten Erkenntnissen P1P2... Aber so steht die Sache nicht. Nicht hat eine blinde Willkür irgendeinen Haufen von Wahrheiten P1P2... S zusammengerafft und dann den menschlichen Geist so eingerichtet, daß er an die Erkenntnis der P1P2... unweigerlich (bzw. unter "normalen" Umständen) die15| Erkenntnis von S anknüpfen muß. In keinem einzigen Falle verhält es sich so. Nicht Willkür und Zufall herrscht in den Begründungszusammenhängen, sondern Vernunft und Ordnung, und das heißt: regelndes Gesetz. Kaum bedarf es eines Beispiels zur Verdeutlichung. Wenn wir in einer mathematischen Aufgabe,20| die ein gewisses Dreieck ABC betrifft, den Satz anwenden "ein gleichseitiges Dreieck ist gleichwinklig", so vollziehen wir eine Begründung, die expliziert lautet: Jedes gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, das Dreieck ABC ist gleichseitig, also ist es gleichwinklig. Setzen wir daneben die arithmetische Begründung: Jede25| dekadische Zahl mit gerader Endziffer ist eine gerade Zahl, 364 ist eine dekadische Zahl mit gerader Endziffer, also ist sie eine gerade Zahl. Wir bemerken sofort, daß diese Begründungen etwas Gemeinsames haben, eine gleichartige innere Konstitution, die wir verständlich ausdrücken in der "Schlußform": Jedes A ist B,30| X ist A, also ist XB. Aber nicht bloß diese zwei Begründungen haben diese gleiche Form, sondern ungezählte andere. Und noch mehr. Die Schlußform repräsentiert einen Klassenbegriff, unter den die unendliche Mannigfaltigkeit von Sätzeverknüpfungen der in ihr scharf ausgeprägten Konstitution fällt. Zugleich besteht35| aber das apriorische Gesetz, daß jede vorgebliche Begründung, die ihr gemäß verläuft, auch wirklich eine richtige ist, wofern sie überhaupt von richtigen Prämissen ausgeht.

18Und dies gilt allgemein. Wo immer wir von gegebenen Erkenntnissen begründend aufsteigen zu neuen, da wohnt dem Begrün34dungswege eine gewisse Form ein, die ihm gemeinsam ist mit unzähligen anderen Begründungen, und die in gewisser[A 19] Beziehung steht zu einem allgemeinen Gesetze, das alle diese einzelnen Begründungen mit einem Schlage zu rechtfertigen gestattet.[B 19]5| Keine Begründung steht, dies ist die höchst merkwürdige Tatsache, isoliert. Keine knüpft Erkenntnisse an Erkenntnisse, ohne daß, sei es in dem äußerlichen Modus der Verknüpfung, sei es in diesem und zugleich in dem inneren Bau der einzelnen Sätze, ein bestimmter Typus ausgeprägt wäre, der, in allgemeine Begriffe10| gefaßt, sofort zu einem allgemeinen, auf eine Unendlichkeit möglicher Begründungen bezüglichen Gesetze überleitet.

19Endlich sei noch ein Drittes als merkwürdig hervorgehoben. Von vornherein, d.h. vor der Vergleichung der Begründungen verschiedener Wissenschaften, möchte man den Gedanken15| für möglich halten, daß die Begründungsformen an Erkenntnisgebiete gebunden seien. Wenn schon nicht überhaupt mit den Klassen von Objekten die zugehörigen Begründungen wechseln, so könnte es doch sein, daß sich die Begründungen nach gewissen sehr allgemeinen Klassenbegriffen, etwa denjenigen, welche die20| Wissenschaftsgebiete abgrenzen, scharf sondern. Ist es also nicht so, daß keine Begründungsform existiert, die zwei Wissenschaften gemeinsam ist, der Mathematik z.B. und der Chemie? Indessen auch dies ist offenbar nicht der Fall, wie schon das obige Beispiel lehrt. Keine Wissenschaft, in der nicht Gesetze auf singuläre Fälle25| übertragen ┌würden┐11, also Schlüsse der uns als Beispiel dienenden Form öfter ┌aufträten┐12. Und dasselbe gilt von vielen Schlußarten sonst. Ja wir werden sagen dürfen, daß alle anderen Schlußarten sich so verallgemeinern, sich so "rein" fassen lassen, daß sie von jeder wesentlichen Beziehung auf ein konkret beschränktes30| Erkenntnisgebiet frei werden.

§ 8. Die Beziehung dieser Eigentümlichkeiten zur Möglichkeit von Wissenschaft und Wissenschaftslehre

20Diese Eigentümlichkeiten der Begründungen, deren Merkwürdigkeit uns nicht auffällt, weil wir allzuwenig geneigt sind,[A 20] das35 Alltägliche zum Problem zu machen, stehen in ersichtlicher[B 20] Beziehung zur Möglichkeit einer Wissenschaft und weiterhin einer Wissenschaftslehre.

21Daß es Begründungen gibt, reicht in dieser Beziehung nicht5| hin. Wären sie form- und gesetzlos, bestände nicht ┌diese┐13 fundamentale Wahrheit, daß allen Begründungen eine gewisse "Form" einwohnt, die nicht dem hic et nunc vorliegenden Schlusse (dem einfachen oder noch so komplizierten) eigentümlich, sondern für eine ganze Klasse von Schlüssen typisch ist, und daß zugleich10| die Richtigkeit der Schlüsse dieser ganzen Klasse eben durch ihre Form verbürgt ist, bestände vielmehr in all dem das Gegenteil — dann gäbe es keine Wissenschaft. Das Reden von einer Methode, von einem systematisch geregelten Fortschritt von Erkenntnis zu Erkenntnis, hätte keinen Sinn mehr, jeder Fortschritt wäre Zu15|fall. Da würden einmal zufällig die Sätze P1P2... in unserem Bewußtsein Zusammentreffen, die dem Satze S die Evidenz zu verleihen fähig sind, und richtig würde die Evidenz aufleuchten. Es wäre nicht mehr möglich, aus einer zustande gekommenen Begründung für die Zukunft das Geringste zu lernen in Beziehung20| auf neue Begründungen von neuer Materie; denn keine Begründung hätte etwas Vorbildliches für irgendeine andere, keine verkörperte in sich einen Typus, und so hätte auch keine Urteilsgruppe, als Prämissensystem gedacht, etwas Typisches an sich, das sich uns (ohne begriffliche Hervorhebung, ohne Rekurs auf25| die explizierte "Schlußform") im neuen Falle und bei Gelegenheit ganz anderer "Materien" aufdrängen und14 die Gewinnung einer neuen Erkenntnis erleichtern könnte. Nach einem Beweis für einen vorgegebenen Satz forschen, hätte keinen Sinn. Wie sollten wir dies auch anstellen? Sollten wir alle möglichen Satzgruppen30| durchprobieren, ob sie als Prämissen für den vorliegenden Satz brauchbar seien? Der Klügste hätte hier vor dem Dümmsten nichts voraus, und ┌es ist fraglich, ob er vor ihm überhaupt noch etwas Wesentliches voraus hätte┐15. Eine reiche Phantasie, ein[A 21] umfassendes Gedächtnis, die Fähigkeit angespannter Aufmerk36samkeit und dgl. mehr sind schöne Dinge, aber intellektuelle Bedeutung gewinnen sie nur bei einem den|kenden Wesen,[B 21] dessen Begründen und Erfinden unter gesetzlichen Formen steht.

22Denn es gilt allgemein, daß in einer beliebigen psychischen5| Komplexion nicht bloß die Elemente, sondern auch die verknüpfenden Formen assoziative bzw. reproduktive Wirksamkeit üben. So kann sich also die Form unserer theoretischen Gedanken und Gedankenzusammenhänge als förderlich erweisen. Wie z.B. die Form gewisser Prämissen den zugehörigen Schlußsatz mit be10|sonderer Leichtigkeit hervorspringen läßt, weil uns früher Schlüsse derselben Form gelungen waren, so kann auch die Form eines zu beweisenden Satzes gewisse Begründungsformen in Erinnerung bringen, welche ähnlich geformte Schlußsätze früher ergeben hatten. Ist es auch nicht klare und eigentliche Erinnerung, so ist15| es doch ein Analogon davon, gewissermaßen latente Erinnerung, es ist "unbewußte Erregung" (im Sinne B. Erdmanns); jedenfalls ist es etwas, das sich für das leichtere Gelingen von Beweiskonstruktionen (und nicht allein in den Gebieten, wo die argumenta in forma vorherrschen, wie in der Mathematik) höchst20| förderlich zeigt. Der geübte Denker findet leichter Beweise als der ungeübte, und warum dies? Weil sich ihm die Typen der Beweise durch mannigfache Erfahrung immer tiefer eingegraben haben und darum für ihn viel leichter wirksam und die Gedankenrichtung bestimmend sein müssen. In gewissem Umfang übt das25| wissenschaftliche Denken beliebiger Gattung für wissenschaftliches Denken überhaupt; daneben aber gilt, daß in besonderem Maß und Umfang das mathematische Denken speziell für Mathematisches, das physikalische speziell für Physikalisches prädisponiert usw. Ersteres beruht auf dem Bestande typischer Formen,30| die allen Wissenschaften gemein sind, letzteres auf dem Bestande anderer (eventuell als bestimmt gestaltete Komplexionen jener zu charakterisierenden) Formen, die zu der Besonderheit der einzelnen Wissenschaften ihre besondere Be|ziehung haben. Die[A 22] Eigenheiten des wissenschaftlichen Taktes, der vorausblickenden35| Intuition und Divination hängen hiermit zusammen. Wir sprechen von einem philologischen Takt und Blick, von einem mathematischen usw.[B 22] Und wer besitzt ihn? Der durch vieljährige Übung geschulte Philologe bzw. Mathematiker usw. In der allgemeinen Natur der Gegenstände des jeweiligen Gebietes wurzeln gewisse37 Formen sachlicher Zusammenhänge, und diese bestimmen wieder typische Eigentümlichkeiten der gerade in diesem Gebiete vorwiegenden Begründungsformen. Hierin liegt die Basis für die vorauseilenden wissenschaftlichen Vermutungen. Alle Prüfung,5| Erfindung und Entdeckung beruht so auf den Gesetzmäßigkeiten der Form.

23Ermöglicht nach all dem die geregelte Form den Bestand von Wissenschaften, so ermöglicht auf der anderen Seite die in weitem Umfange bestehende Unabhängigkeit der Form10| vom Wissensgebiet den Bestand einer Wissenschaftslehre. Gälte diese Unabhängigkeit nicht, so gäbe es nur einander beigeordnete und den einzelnen Wissenschaften einzeln entsprechende Logiken, aber nicht die allgemeine Logik. In Wahrheit finden wir aber beides nötig: wissenschaftstheoretische Untersuchungen,15| welche alle Wissenschaften gleichmäßig betreffen, und zur Ergänzung derselben besondere Untersuchungen, welche die Theorie und Methode der einzelnen Wissenschaften betreffen und das diesen Eigentümliche zu erforschen suchen.

24So dürfte die Hervorhebung jener Eigentümlichkeiten, die sich20| bei der vergleichenden Betrachtung der Begründungen ergaben, nicht nutzlos gewesen sein, auf unsere Disziplin selbst, auf die Logik im Sinne einer Wissenschaftslehre, einiges Licht zu werfen.

§ 9. Die methodischen Verfahrungsweisen in den Wissenschaften teils Begründungen, teils Hilfsverrichtungen für Begründungen

2525|Doch es bedarf noch einiger Ergänzungen, zunächst hinsichtlich unserer Beschränkung auf die Begründungen, die[A 23] doch den Begriff des methodischen Verfahrens nicht erschöpfen. Den Begründungen kommt aber eine zentrale Bedeutung zu, die unsere vorläufige Beschränkung rechtfertigen wird.

2630|[B 23] Man kann nämlich sagen: daß alle wissenschaftlichen Methoden, die nicht selbst den Charakter von wirklichen Begründungen (sei es einfachen oder noch so komplizierten) haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch Begründungen35| ein für allemal Sinn und Wert empfangen haben, bei ihrer praktischen Verwendung zwar die Leistung, aber nicht den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich schließen; oder38 daß sie mehr oder weniger komplizierte Hilfsverrichtungen darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleichterung, Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen und abermals keine diesen wissenschaftlichen Grundprozessen gleichwertige und5| neben ihnen selbständige Bedeutung beanspruchen dürfen.

27So ist es z.B., um uns an die zweiterwähnte Methodengruppe anzuschließen, ein wichtiges Vorerfordernis für die Sicherung von Begründungen überhaupt, daß die Gedanken in angemessener Weise zum Ausdruck kommen mittels wohl unterscheidbarer und10| eindeutiger Zeichen. Die Sprache bietet dem Denker ein in weitem Umfang anwendbares Zeichensystem zum Ausdruck seiner Gedanken, aber obschon niemand desselben entraten kann, so stellt es doch ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel der strengen Forschung dar. Die schädlichen Einflüsse der Äquivokationen15| auf die Triftigkeit der Schlußfolgerungen sind allbekannt. Der vorsichtige Forscher darf die Sprache also nicht ohne kunstmäßige Vorsorgen verwenden, er muß die gebrauchten Termini, soweit sie ┌nicht eindeutig sind┐16 und scharfer Bedeutung ermangeln, definieren. In der Nominaldefinition sehen wir also20| ein methodisches Hilfsverfahren zur Sicherung der Begründungen, dieser primär und eigentlich theoretischen Prozeduren.

28| Ähnlich verhält es sich mit der Nomenklatur. Kurze und [A 24] charakteristische Signaturen für wichtigere und häufig wiederkehrende Begriffe sind — um nur eines zu erwähnen — überall25| da unerläßlich, wo diese Begriffe mit dem ursprünglichen Vorrat von definierten Ausdrücken nur sehr umständlich zum Ausdruck[B 24] kämen; denn umständliche, vielfach ineinander geschachtelte Ausdrücke erschweren die begründenden Operationen oder machen sie sogar unausführbar.

2930|Von ähnlichen Gesichtspunkten läßt sich auch die Methode der Klassifikation betrachten usf.

30Beispiele zur ersten Methodengruppe bieten uns die so überaus fruchtbaren algorithmischen Methoden, deren eigentümliche Funktion es ist, uns durch künstliche Anordnungen35| mechanischer Operationen mit sinnlichen Zeichen einen möglichst großen Teil der eigentlichen deduktiven Geistesarbeit zu ersparen. Wie Wunderbares diese Methoden auch leisten, sie ge39winnen Sinn und Rechtfertigung nur aus dem Wesen des begründenden Denkens. Hierher gehören auch die in wörtlichem Sinne mechanischen Methoden — man denke an die Apparate für mechanische Integration, an Rechenmaschinen u. dgl. —, ferner die5| methodischen Verfahrungsweisen zur Feststellung objektiv gültiger Erfahrungsurteile, wie die mannigfaltigen Methoden zur Bestimmung einer Sternposition, eines elektrischen Widerstandes, einer trägen Masse, eines Brechungsexponenten, der Konstanten der Erdschwere usw. Jede solche Methode repräsentiert eine10| Summe von Vorkehrungen, deren Auswahl und Anordnung durch einen Begründungszusammenhang bestimmt wird, welcher allgemein nachweist, daß ein so geartetes Verfahren, mag es auch blind vollzogen sein, notwendigerweise ein objektiv gültiges Einzelurteil liefern müsse.

3115|Doch genug der Beispiele. Es ist klar: Jeder wirkliche Fortschritt der Erkenntnis vollzieht sich in der Begründung; auf sie haben daher alle die methodischen Vorkehrungen und Kunstgriffe Beziehung, von denen über die Begründungen hinaus die Logik noch handelt. Dieser Beziehung verdanken sie auch[A 25] ihren typi20|schen Charakter, der ja zur Idee der Methode wesentlich gehört. Um dieses Typischen willen ordnen sie sich übrigens in die Betrachtungen des vorigen Paragraphen ebenfalls mit ein.

[B 25]

§ 10. Die Ideen Theorie und Wissenschaft als Probleme der Wissenschaftslehre

3225|Aber noch einer weiteren Ergänzung bedarf es. Natürlich hat ┌es┐17 die Wissenschaftslehre, so wie sie sich uns hier ergeben hat, nicht bloß mit der Erforschung der Formen und Gesetzmäßigkeiten einzelner Begründungen (und der ihnen zugeordneten Hilfsverrichtungen) zu tun. Einzelne Begründungen finden wir ja30| auch außerhalb der Wissenschaft, und somit ist klar, daß einzelne Begründungen — und ebenso zusammengeraffte Haufen von Begründungen — noch keine Wissenschaft ausmachen. Dazu gehört, wie wir uns oben ausdrückten, eine gewisse Einheit des Begründungszusammenhanges, eine gewisse Einheit in der Stu35|fenfolge von Begründungen; und diese Einheitsform hat selbst40 ihre hohe teleologische Bedeutung für die Erreichung des obersten Erkenntniszieles, dem alle Wissenschaft zustrebt: uns in der Erforschung der Wahrheit — d.h. aber nicht in der Erforschung einzelner Wahrheiten, sondern des Reiches der Wahrheit bzw. der5| natürlichen Provinzen, in die es sich gliedert — nach Möglichkeit zu fördern.

33Die Aufgabe der Wissenschaftslehre wird es also auch sein, von den Wissenschaften als so und so gearteten systematischen Einheiten zu handeln, m.a.W. von dem, was sie der10| Form nach als Wissenschaften charakterisiert, was ihre wechselseitige Begrenzung, was ihre innere Gliederung in Gebiete, in relativ geschlossene Theorien bestimmt, welches ihre wesentlich verschiedenen Arten oder Formen sind, u. dgl.

34Man kann diese systematischen Gewebe von Begründungen15| ebenfalls dem Begriff der Methode unterordnen und somit der Wissenschaftslehre nicht bloß die Aufgabe zuweisen, von den Wissensmethoden zu handeln, die in den Wissenschaften auf[A 26]treten, sondern auch von denjenigen, welche selbst Wissenschaften heißen. Nicht allein gültige und ungültige Begründungen,20| sondern auch gültige und ungültige Theorien und Wissenschaften zu scheiden, fällt ihr zu. Die Aufgabe, die ihr damit zugewiesen wird, ist[B 26] von der früheren offenbar nicht unabhängig, sie setzt in beträchtlichem Umfange deren vorgängige Lösung voraus; denn die Erforschung der Wissenschaften als systematischer Ein25|heiten ist nicht denkbar ohne die vorgängige Erforschung der Begründungen. Jedenfalls liegen beide im Begriffe einer Wissenschaft von der Wissenschaft als solcher.

§11. Die Logik oder Wissenschaftslehre als normative Disziplin und als Kunstlehre

3530|Nach dem, was wir bisher erörtert haben, ergibt sich die Logik — in dem hier fraglichen Sinne einer Wissenschaftslehre — als eine normative Disziplin. Wissenschaften sind Geistesschöpfungen, die nach einem gewissen Ziele gerichtet und darum auch diesem Ziele gemäß zu beurteilen sind. Und dasselbe gilt von den35| Theorien, Begründungen und allem überhaupt, was wir Methode nennen. Ob eine Wissenschaft in Wahrheit Wissenschaft, eine Methode in Wahrheit Methode ist, das hängt davon ab, ob sie41 dem Ziele gemäß ist, dem sie zustrebt. Was den wahrhaften, den gültigen Wissenschaften als solchen zukommt, m.a.W. was die Idee der Wissenschaft konstituiert, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden5| Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder inwieweit sie sich ihr nähern, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft und scheidet von sich ab die vergleichende Betrachtungsweise der historischen Wissenschaft, welche die Wissenschaften als konkrete Kulturerzeugnisse10| der jeweiligen Epochen nach ihren typischen Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erfassen und aus den Zeitverhältnissen zu erklären versucht. Denn das ist das Wesen der normativen Wissenschaft, daß sie allgemeine Sätze[A 27] begründet, in welchen mit Beziehung auf ein normierendes Grundmaß — z.B.15| eine Idee oder einen obersten Zweck — bestimmte Merkmale angegeben sind, deren Besitz die Angemessenheit an das Maß verbürgt oder umgekehrt eine unerläßliche Bedingung für diese Angemessenheit[B 27] beistellt; desgleichen auch verwandte Sätze, in welchen der Fall der Unangemessenheit berücksichtigt oder das20| Nichtvorhandensein solcher Sachlagen ausgesprochen ist. Nicht als ob sie allgemeine Kennzeichen zu geben brauchte, die besagen, wie ein Objekt überhaupt beschaffen sein soll, um der Grundnorm zu entsprechen; so wenig die Therapie Universalsymptome angibt, so wenig gibt irgendeine normative Disziplin Universalkri25|terien. Was uns im besonderen die Wissenschaftslehre gibt und allein geben kann, sind Spezialkriterien. Indem sie feststellt, daß im Hinblick auf das oberste Ziel der Wissenschaften und auf die faktische Konstitution des menschlichen Geistes, und was sonst noch in Betracht kommen mag, die und die Methoden, etwa30| M1M2..., erwachsen, spricht sie Sätze der Form aus: Jede Gruppe von Geistesbetätigungen der Arten aß..die in der Komplexionsform M1 (bzw. M2...) sich abwickeln, liefert einen Fall richtiger Methode; oder was gleichwertig ist: Jedes (angeblich) methodische Verfahren der Form M1 (bzw. M2-..) ist ein35| richtiges. Gelänge es, alle an sich möglichen und gültigen Sätze dieser und verwandter Art wirklich aufzustellen, dann allerdings enthielte die normative Disziplin die messende Regel für jede angebliche Methode überhaupt, aber auch dann nur in Form von Spezialkriterien.

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36Wo die Grundnorm ein Zweck ist oder Zweck werden kann, geht aus der normativen Disziplin durch eine naheliegende Erweiterung ihrer Aufgabe eine Kunstlehre hervor. So auch hier. Stellt sich die Wissenschaftslehre die weitergehende Aufgabe, die5| unserer Macht unterliegenden Bedingungen zu erforschen, von denen die Realisierung gültiger Methoden abhängt, und Regeln aufzustellen, wie wir in der methodischen Überlistung der Wahrheit verfahren, wie wir Wissenschaften triftig[A 28] abgrenzen und aufbauen, wie wir im besonderen die mannigfachen in ihnen10| förderlichen Methoden erfinden oder anwenden, und wie wir uns in allen diesen Beziehungen vor Fehlern hüten sollen: so wird sie zur Kunstlehre von der Wissenschaft. Offenbar schließt diese die normative Wissenschaftslehre ┌ganz┐18 in sich, und es ist daher vermöge ihres unzweifelhaften Wertes durchaus an-| [B 28]15| gemessen, wenn man den Begriff der Logik entsprechend erweitert und sie im Sinne dieser Kunstlehre definiert.

§ 12. Hierher gehörige ┌Definitionen┐19 der Logik

37Die Definition der Logik als einer Kunstlehre ist von alters her sehr beliebt, doch lassen die näheren Bestimmungen in der Regel20| zu wünschen übrig. Definitionen wie Kunstlehre des Urteilens, des Schließens, der Erkenntnis, des Denkens (l’art de penser) sind mißdeutlich und jedenfalls zu enge. Begrenzen wir z.B. in der letzterwähnten und noch heute gebrauchten Definition die vage Bedeutung des Terminus "denken" auf den Begriff des richtigen25| Urteils, so lautet die Definition: Kunstlehre vom richtigen Urteil. Daß diese Definition aber zu enge ist, geht nun daraus hervor, daß aus ihr der Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht ableitbar ist. Sagt man: der Zweck des Denkens werde ┌vollkommen┐20 erst in der Wissenschaft erfüllt, so ist dies unzweifel30|haft richtig; aber es ist damit auch zugegeben, daß eigentlich nicht das Denken bzw. die Erkenntnis, der Zweck der fraglichen Kunstlehre ist, sondern dasj enige, dem das Denken selbst Mittel ist.

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38Ähnlichen Bedenken unterliegen die übrigen Definitionen. Sie unterliegen auch dem neuerdings wieder von Bergmann erhobenen Einwande, daß wir in der Kunstlehre einer Tätigkeit — z.B. des Malens, des Singens, des Reitens — vor allem erwarten5| müßten, "daß sie zeige, was man tun müsse, damit die betreffende Tätigkeit richtig vollzogen werde, z.B. wie man beim Malen den Pinsel fassen und führen, beim Singen die Brust, die Kehle und den Mund gebrauchen, beim Reiten[A 29] den Zügel anziehen und nachlassen und mit den Schenkeln drücken müsse". So kämen10| in den Bereich der Logik ihr ganz fremdartige Lehren.21

39[B 29] Näher der Wahrheit steht sicherlich Schleiermachers Definition der Logik als Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn selbstverständlich wird man in der so begrenzten Disziplin nur die Besonderheit der wissenschaftlichen Erkenntnis15| zu berücksichtigen und, was sie fördern kann, zu erforschen haben; während die entfernteren Vorbedingungen, welche das Zustandekommen von Erkenntnis überhaupt begünstigen, der Pädagogik, der Hygiene usw. überlassen bleiben. Indessen kommt in Schleiermachers Definition nicht ganz deutlich zum Aus20|druck, daß es dieser Kunstlehre auch obliege, die Regeln aufzustellen, denen gemäß Wissenschaften abzugrenzen und aufzubauen sind, während umgekehrt dieser Zweck den der wissenschaftlichen Erkenntnis einschließt. Vortreffliche Gedanken zur Umgrenzung unserer Disziplin findet man in Bolzanos Wissen25|schaftslehre, aber mehr in den kritischen Voruntersuchungen als in der Definition, die er selbst bevorzugt. Diese lautet befremdlich genug: die Wissenschaftslehre (oder Logik) sei "diejenige Wissenschaft, welche uns anweise, wie wir ┌die┐22 Wissenschaften in zweckmäßigen Lehrbüchern darstellen sollen".23

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First Edition

Die Logik als normative und speciell als practische Disciplin

1900

Edmund Husserl

in: Logische Untersuchungen. Erster Theil, Halle (Saale) : Niemeyer