Repository | Book | Chapter

148714

(1991) Welt im Widerspruch, Dordrecht, Springer.

Welt ohne Wahrheit

Stephan Strasser

pp. 112-113

Keine Wahrheit ohne Wahrheitsnorm. Dies ist eine Überzeugung, die allen erkenntnistheoretischen Untersuchungen Husserls zugrunde-liegt, die er jedoch mitunter auch explizit zum Ausdruck bringt. In seinen Wiener Vorträgen etwa spricht er von einer "Praxis, die darauf aus ist, durch die universale wissenschaftliche Vernunft die Menschheit nach Wahrheitsnormen aller Formen zu erhöhen … " (Hua VI, 329). In einem Text, der 1931 oder 1932 entstanden ist, heißt es: "Wir in der Unübersehbarkeit unseres generativen Daseins, unserer generativen Vergangenheit und Zukunft, leben so, daß für uns notwendig die Idee der Wahrheit als Norm gelten muß" (Hua XV, 439). Wenn man beide Zitate vergleicht, entdeckt man allerdings, daß das Problem auf zwei verschiedene Weisen gestellt wird. In den Wiener Vorträgen spricht Husserl ausdrücklich von "Wahrheitsnormen" in der Mehrzahl. Er denkt dabei — dies geht aus dem Kontext hervor — an verschiedene "Einstellungen", die ihrerseits mit verschiedenen Berufen und mit typischen Formen menschlicher Praxis zusammenhängen. Von ihnen hebt sich die "theoretische Einstellung" ab, die bezeichnend ist für das wissenschaftliche Leben. Was Husserl nicht ausdrücklich erwähnt, ist die Tatsache, daß die Vertreter verschiedener Wissenschaften mit verschiedenen Typen von Wahrheit arbeiten und deshalb bei ihrem konkreten Suchen und Forschen verschiedene Wahrheitsnormen als maßgebend betrachten. Mit Recht spricht man etwa vom Denkstil des Mathematikers und unterscheidet ihn spontan vom Denkstil eines empirischen Forschers.

Publication details

DOI: 10.1007/978-94-011-2484-3_30

Full citation:

Strasser, S. (1991). Welt ohne Wahrheit, in Welt im Widerspruch, Dordrecht, Springer, pp. 112-113.

This document is unfortunately not available for download at the moment.