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Die Psychomotorik als ontogenetischer Ursprung aller Bildungsprozesse

Karl-Heinz Braun

pp. 23-46

In diesem wie dem folgenden Kapitel stehen die Entwicklungsprozesse des Säuglingsalters und der frühen Kindheit im Zentrum. Dabei geht es in Kap.2 generell darum, die pädagogischen Herausforderungen bei der erstmaligen Herausbildung der individuellen Subjektivität darzustellen. Ausgangspunkt bildet dabei die Einsicht des sozialökologischen Entwicklungskonzeptes, dass der Mensch ein biosoziales Wesen ist. Diese wird anhand der Theorie von Piaget gerade hinsichtlich der Frühphase der psychosozial eingelagerten kognitiven Entwicklungsstufen rekonstruiert, die er in einen engen Zusammenhang stellt mit der alltagsverankerten und -bezogenen Bewältigung von Handlungsprozessen und -problemen (Kap. 2.1). Dem liegt die normativ gut begründete bzw. begründbare Annahme zugrunde, dass die Säuglinge und Kleinst- bzw. Kleinkinder ein unveräußerliches Menschenrecht auf körperliche, psychische und geistige Gesundheit haben (was qualitativ mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit!). Da dies für einen Teil der Familien keine Selbstverständlichkeit ist, wurde in den letzten Jahren das Konzept der Familienhebammen entwickelt und implementiert, welches das traditionelle medizinische Aufgabenverständnis um die psychosozialen Kompetenzen erweitert und damit als Teil der Frühen Hilfen Anschluss gefunden hat an bestimmte Aufgabenbestimmungen der Sozialen Arbeit (Kap. 2.2). Während es dabei wesentlich um die primäre oder sekundäre Prävention zur Sicherung des Kindeswohls geht, eröffnet die Theorie von Piaget noch ein anderes pädagogisches Perspektivenspektrum, nämlich die handlungs- und sozialraumbezogene Förderung der elementaren kognitiven Prozesse durch eine anregungsreiche Umwelt, die weitreichende Ermöglichung von Selbsttätigkeit und die takt- und respektvolle Förderung und Anregung dieser frühen Selbstbildungsprozesse (Kap. 2.3)Es gehört zu den universellen Besonderheiten der menschlichen Individuen, dass sie sowohl Naturwesen als auch soziale Wesen sind, dass besonders in den frühen und den späten Phasen der Individualentwicklung (Ontogenese) biologische Reifebzw. Verfallsprozesse und psychosoziale Lebenspraxis ineinandergreifen. In der Sozialen Arbeit spielt die Lebensweltorientierung im Sinne der Ausrichtung am Alltagsleben der Menschen, speziell der AdressatInnen, eine zentrale Rolle. Sie ist aber nur ein wichtiger Bezugspunkt der phänomenologisch ausgerichteten Sozialwissenschaften. Ein weiterer ist die Leiblichkeit; sie ist das Vermittlungsmedium zwischen der Körperlichkeit (mit den Systemen Atmung, Bewegungsapparat, endokrines System [Hormondrüsen, die ihre Produkte direkt ins Blut angeben], Herz/ Kreislauf, Immunsystem, Sinnesorgane/Nerven, Urogenitalsystem und Verdauung) und der Gesellschaftlichkeit (Gesamtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen, der unmittelbaren sozialen, der institutionellen und der übergreifenden systemischen Lebensbedingungen). Die in der Leiblichkeit enthaltene Spannung zwischen biologischer Reifung und psychischer Entwicklung beginnt in der 7. Woche der Schwangerschaft mit der Ausbildung der Berührungsreize (als elementarster Form der Sensibilität) und der Habituation (als elementarster Lernform) zwischen der 29. und 32. Woche (vgl. Bodenburg/Kollmann 2014, 91ff) und entfaltet sich besonders "rasant" ab der Geburt. Entgegen den im Alltagsdenken immer noch weit verbreiteten und lange Zeit auch in der Wissenschaft dominierenden Auffassung vom passiven Säugling (1. – 12. Monat) und Kleinstkind (englisch Toddler genannt; 13. – 24. Monat) – zum Teil werden auch die Kleinkinder (24. – 36. Monat) nicht vorrangig als aktive, sondern als zu beschützende und zu "belehrende" Wesen betrachtet – hat der Genfer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) von Anfang an die Subjektivität der Kinder betont. Dies ist ein guter Grund, seine diesbezüglichen Überlegungen zum zentralen Bezugspunkt dieser Bildungsaufgabe zu machen.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-658-17100-1_2

Full citation:

Braun, K. (2018). Die Psychomotorik als ontogenetischer Ursprung aller Bildungsprozesse, in Entwicklungspädagogische Theorien, Konzepte und Methoden 1, Dordrecht, Springer, pp. 23-46.

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