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(2009) Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Wie ist Kunst?

Eine ontologische Glosse zur Permanenz des Ästhetischen

Reinold Schmücker

pp. 23-40

Mit der Permanenz des Ästhetischen ist es so eine Sache.1 Im Fitzwilliam Museum in Cambridge ist vor zwei Jahren ein Besucher auf einer Treppe über seinen eigenen Schnürsenkel gestolpert. Die dramatischen Folgen dieses Ereignisses schilderte die Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt: "Augenzeugen berichteten, der Mann sei wie in Zeitlupe die Stufen hinuntergefallen und vor einer Fensterbank gelandet, vor der seit vierzig Jahren drei Vasen der Qing-Dynastie standen, die in tausend Stücke zerbrachen. Eine mit dem Mobiltelefon eines Besuchers gemachte Aufnahme zeigt, wie der Unglückselige benommen inmitten eines Scherbenhaufens liegt. Das Universitätsmuseum will versuchen, die Vasen aus dem späten siebzehnten oder frühen achtzehnten Jahrhundert wieder zusammenzustückeln." 2 Der Restaurationsversuch wird vermutlich gelingen, allerdings nur um den Preis der Ersetzung einzelner nicht mehr auffindbarer oder aufgrund allzu geringer Größe nicht mehr verwendbarer Partikel. Auch wird die Restauration neben der Verwendung spezieller Klebstoffe wahrscheinlich auch die restauratorische Abdeckung von Bruchkanten unter Benutzung weiterer Materialien einschließen, die der Restaurator zu den ursprünglichen Bestandteilen der Vasen hinzufügt. Ist eine solche Restauration legitim? Oder handelt es sich bestenfalls um die Vortäuschung der Wiederherstellung eines Kunstwerks, das aufgrund mangelnder Disziplin beim Schnürsenkelbinden unwiederbringlich verloren ist? Zumindest, wenn es sich bei den betroffenen Objekten um prominente Kunstobjekte der abendländischen Kulturtradition handelt, ist das keine rein akademische Frage. So ist die Entscheidung der Vatikanischen Museen, Michelangelos römische Pietà, die am 21. Mai 1972 von einem australischen Geologen mit einem Hammer teilweise zer-trümmert worden war, in integraler Weise restaurieren und zerstörte oder verlorengegangene Teile – darunter Teile eines Arms, der Nase, eines Auges und des Schleiers – durch Nachbildungen ersetzen zu lassen, seinerzeit in Fachwelt und Öffentlichkeit teils auf große Zustimmung, teilweise aber auch auf Ablehnung gestoßen. Anders als gewöhnliche materielle Objekte wie beispielsweise Autos, so wandte etwa der amerikanische Kunsttheoretiker Mark Sagoff (1975) gegen die Pietà-Restauration ein, seien Kunstwerke Gegenstände, die sich durch Authentizität auszeichneten und deren Teile deshalb nicht ersetzbar seien. Letztlich muss dieser Auffassung zufolge jede Restauration eines – und sei es durch nicht eliminierbare Umwelteinflüsse – in Mitleidenschaft gezogenen Kunstwerks fragwürdig erscheinen. Doch auch, wer so weit gar nicht gehen will, mag sich, wenn er für eine Sammlung zeitgenössischer Videokunst Verantwortung trägt, mit der Frage konfrontiert sehen, wie mit einer Monitorwand von Nam June Paik verfahren werden soll, wenn eines der Fernsehgeräte seinen Geist aufgibt: Darf man, wenn kein Exemplar jener vor über dreißig Jahren gefertigten Baureihe, der das defekte Gerät entstammt, mehr aufzutreiben ist, dieses gegen ein Gerät neueren Datums austauschen, selbst wenn dieses auf einer neueren Technologie beruht (und Paik ja nun nicht mehr gefragt werden kann)? Darf man elektronische Kunst, um sie gegen den Verfall zu sichern, der durch das Veralten von Speicher-und Wiedergabetechnologien droht, vom Magnetband auf DVD, auf die Festplatte des museumseigenen Servers oder auf einen Speicherstick umkopieren? Oder muss vielmehr umgekehrt ein Museum elektronischer Kunst neben den Werken selbst auch alle technischen Voraussetzungen der Präsentation seiner Schätze auf immer zu bewahren suchen? Darf man als Kurator oder Galerist, der elektronische Kunst präsentiert, Videokunst, die vor dreißig Jahren im Hinblick auf die Möglichkeiten entstand, die der damals handelsübliche Fernsehbildschirm bot – man denke etwa an Bruce Naumans Beckett Walk–, im Zeitalter der leistungsstarken Beamer wandbreit projizieren?

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-531-91472-5_1

Full citation:

Schmücker, R. (2009)., Wie ist Kunst?: Eine ontologische Glosse zur Permanenz des Ästhetischen, in M. Sachs & S. Sander (Hrsg.), Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 23-40.

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