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(2010) Subjekt – Identität – Person?, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Ordo amoris

Die Sichtung des Anderen. Zu Schelers Phänomenologie der Befindlichkeit

Erwin Hufnagel

pp. 49-72

Ab 1914 hat Scheler an einer Abhandlung gearbeitet, die zu den persönlichsten und bedeutsamsten Bemühungen um die Klärung des eigenen philosophischen Wollens gehört. Der Formalismus war in seinen Grundzügen als Teil einer umfassenden Axiologie bereits entworfen und zu einem großen Teil durchkomponiert. Im emotionalen Apriorismus sah Scheler ein systematisches Zentralstück seiner Phänomenologie. Vergessene und verdrängte Traditionen der Vernünftigkeit des Herzens (Augustinus, Pascal, Rousseau, Herbart) galt es zu rehabilitieren. Der europäische Rationalismus und der kantsche Transzendentalismus wurden zum Problem. Schelers Hochschätzung der nietzscheschen und diltheyschen Philosophie des Lebens gründet im Bewusstsein verwandten Wollens. Die rationalistisch- aufklärerische Selbstvergewisserung des europäischen Menschen bedurfte der Kritik. In dieser Selbstidentifikation walteten fundamentale anthropologische und ontologische Illusionen, die zu einem großen Teil in aristotelischen Vorurteilen gründeten. Rationalismus und Aristotelismus waren in der europäischen Geistesgeschichte miteinander verschmolzen. Vernunftideologie und animal rationale-Anthropologie gewannen den Status von Selbstverständlichkeiten. Noch im schlichtesten Alltagsdenken mit seinen vermögenspsychologischen naiven Gliederungen sind sie am Werk. Scheler will diese fatale Tradition durchschauen und durchbrechen. Auf arrogant-pathetische Selbstinszenierung verzichtet er durchgängig. In seiner metaphysischen Phänomenologie – der schelersche Begriff der Metaphysik deckt sich nicht mit den (aristotelischen) geschichtlichen Vorgaben – vollzieht sich eine radikale Selbstdistanzierung des jahrtausendealten europäischen Denkens und Wertens. Dabei spielen die außereuropäischen Denkkulturen, die seit Schopenhauer und den historistischen Neuwertungen anderer Lebens- und Denkformen nach und nach in Erscheinung traten, für Scheler eine wichtige Rolle. Der Eurozentrismus war gebrochen. Damit eröffneten sich fundamentale Möglichkeiten der Kritik des europäischen Denkens. In der Fragment gebliebenen Abhandlung Ordo amoris (1957) sollten sie synoptisch dargestellt und aus einem Zentralbegriff entwickelt werden. Scheler intendierte dabei auch eine Pathologie des Denkens und Wertens. Die europäische Geschichte des Denkens sah er auch als eine Geschichte der Erkrankung. Denken steht prinzipiell in der Möglichkeit der Verkehrung.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-531-92488-5_3

Full citation:

Hufnagel, E. (2010)., Ordo amoris: Die Sichtung des Anderen. Zu Schelers Phänomenologie der Befindlichkeit, in B. Griese (Hrsg.), Subjekt – Identität – Person?, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 49-72.

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