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Einleitung

Ludwig Binswanger

pp. 1-5

Die anschauliche Wirklichkeit, von welcher die Psychiatrie schauend, beobachtend, scheidend und kombinierend ihren Ausgangspunkt nimmt und zu welcher sie umgestaltend, helfend und heilend auf großen Umwegen zurückkehrt, ist der seelisch-kranke Mensch. Ob ich an einem Menschen eine zirkumskripte Phobie wahrnehme und sie auf dem Umweg über die Einwirkung auf seinen 'seelischen Mechanismus' auflösen will, oder ob ich an ihm eine schwachsinnige Euphorie wahrnehme und sie auf dem Umweg über den Kampf gegen die Spirochäten in seinem Gehirn zu bekämpfen suche, immer bleibt der Ausgangs- und Endpunkt meines Wahrnehmens, Denkens und Handelns der seelisch kranke Mensch. Es ist nun zu konstatieren, daß die Psychiatrie als Wissenschaft ein Teilstück dieses ganzen Weges künstlich herausgenommen und in den Vordergrund der Betrachtung gestellt hat, ein Stück, das gekennzeichnet ist durch den Lehrsatz: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten. Obwohl der isolierte wissenschaftliche Bedeutungsgehalt dieses Satzes nicht angetastet werden kann, ist doch dieser Gehalt in dem Ganzen desjenigen objektiven Sinngebildes, das wir wissenschaftliche Psychiatrie nennen, noch keineswegs an seine richtige "Stelle" gerückt, sind die logischen und methodologischen Beziehungen zwischen ihm und dem Ganzen der psychiatrisch-wissenschaftlichen Aufgabe noch keineswegs näher bestimmt, geschweige denn geklärt.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-47384-5_1

Full citation:

Binswanger, L. (1922). Einleitung, in Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie, Dordrecht, Springer, pp. 1-5.

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