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197849

(2017) Kasimir Twardowski, Dordrecht, Springer.

Über begriffliche Vorstellungen

Anna Brożek , Jacek Juliusz Jadacki, Friedrich Stadler

pp. 145-163

I. Die Unterscheidung anschaulicher und unanschaulicher oder begrifflicher Vorstellungen ist seit jeher üblich und anerkannt. Bereits Aristoteles hat den Gegensatz zwischen dem, was sich anschaulich, und dem, was sich bloß unanschaulich vorstellen lässt, in den Ausdrücken τα αισθετα und τα νoετα festgelegt (z. B. [Aristoteles 1884: II. 8. 432 a 12–14], oder [Aristoteles 1886: I. 8. 990 a 31–32]). Denselben Gegensatz charakterisiert Descartes in den Meditationen folgendermaßen: "Wenn ich mir ein Dreieck bildlich vorstelle (imaginor), sehe ich nicht nur ein, dass dasselbe eine von drei Linien eingeschlossene Figur ist, sondern ich sehe zugleich jene drei Linien mit meinem geistigen Blicke gleichsam vor mir, und das ist es eben, was ich anschaulich vorstellen (imaginari) nenne. Wenn ich dagegen an ein Tausendeck denken will, so sehe ich zwar eben so gut ein, dass dasselbe eine von tausend Seiten gebildete Figur ist, wie ich einsehe, dass ein Dreieck aus drei Seiten besteht, aber ich stelle mir nicht in der gleichen Weise jene tausend Seiten anschaulich vor (imaginor), oder mit anderen Worten, ich sehe sie nicht gleichsam vor mir; und obgleich ich in diesem Falle infolge der Gewohnheit, immer etwas anschaulich vorzustellen (imaginandi), so oft ich an ein körperliches Ding denke, mir wohl irgendeine Figur in verschwommener Weise vergegenwärtige, so ist doch dieselbe offenbar nicht ein Tausendeck, da sie sich in keiner Weise von jener Figur unterscheidet, die ich mir ebenfalls vergegenwärtigen würde, wenn ich an ein Zehntausendeck oder an eine beliebige andere Figur von recht vielen Seiten dächte; auch trägt sie nichts bei zur Erkenntnis jener Eigenschaften, welche ein Tausendeck von anderen Vielecken unterscheiden. Wenn dagegen vom Fünfeck die Rede ist, so kann ich zwar seine Gestalt ebenso wie jene des Tausendecks begreifen (intelligere), ohne das anschauliche Vorstellen (imaginari) zu Hilfe zu nehmen; aber ich kann mir dieselbe auch anschaulich vorstellen (imaginari), indem ich nämlich mein geistiges Auge auf die fünf Seiten sowie auf die von denselben umschlossene Fläche wende. Und ganz klar bemerke ich hierbei, dass es einer ganz eigenartigen Anstrengung meines Geistes bedarf, um etwas anschaulich vorzustellen (ad imaginandum), welche ich beim Begreifen (ad intelligendum) nicht anwende; eben diese hinzukommende Anstrengung charakterisiert klar den Unterschied zwischen anschaulichem Vorstellen (imaginationem) und rein begrifflichem Denken (intellectionem puram)" [Descartes 1641: VI]. Es wäre überflüssig, entsprechende Stellen aus Philosophen späterer Jahrhunderte anzuführen; fiele doch hierbei, eben wegen der fast unübersehbaren Zahl derartiger Stellen, die Wahl äußerst schwer. Sogar außerhalb der Philosophie ist der Unterschied anschaulichen und unanschaulichen Vorstellens wenigstens indirekt bezeugt, indem man gar häufig davon hört, dass man sich dieses oder jenes (Gott, ein Atom, den Lichtäther, eine Billion u.dgl.) "nicht vorstellen könne", dass diese oder jene Vorstellung, z. B. jene eines runden Vierecks, "unvollziehbar" sei – Wendungen, welche nichts anderes bedeuten können, als dass man sich Gott, ein Atom u.s.w. nicht anschaulich vorstellen könne (vgl. [Höfler und Meinong 1890: § 15. IV]).

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-319-44474-1_5

Full citation:

Brożek, A. , Jadacki, J.J. , Stadler, F. (2017)., Über begriffliche Vorstellungen, in A. Brożek, J. J. Jadacki & F. Stadler (Hrsg.), Kasimir Twardowski, Dordrecht, Springer, pp. 145-163.

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