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204320

(1997) Scham — ein menschliches Gefühl, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Scham als reiner Affekt im Licht psychologisch- und radikal-phänomenologischer Reduktion

Rolf Kühn, Michael Titze

pp. 189-201

Wir haben die folgende Ausgangssituation vor Augen: Ein Kind, vielleicht im Alter von einem Jahr, bewegt sich auf seine Mutter zu und schaut ihr dabei erwartungsvoll ins Gesicht. Doch diese ist anderweitig beschäftigt; sie würdigt das Kind keines Blickes. Gründe dafür kann es viele geben. Vielleicht ist die Mutter sehr stark mit ihrer Hausarbeit beschäftigt, vielleicht ist sie in Gedanken bei ihrem unzuverlässigen Partner, vielleicht fühlt sie sich in diesem Augenblick einfach unwohl, vielleicht gelingt es ihr aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur nicht, die "zwischenmenschliche Brücke"1 zu ihrem Kind herzustellen. Dieses fühlt sich jedenfalls jählings zurückgewiesen. Es spürt, daß der Kontakt zu seiner Mutter nicht gelingt. Die Gesichtsmuskulatur des Kindes spannt sich an, seine Atmung und sein Herzschlag werden schneller, was eine Intensivierung der Blutzirkulation zur Folge hat. Die Augen füllen sich mit Tränen, das Kind beginnt zu weinen. Es empfindet Wut. Aber auch diese affektive Äußerung läuft ins Leere, da die Mutter — aus den schon genannten Gründen — auf sich selbst bezogen ist.2 So entsteht schließlich jene Art von Traurigkeit, wie sie jeder Mensch empfinden wird, der sich abgelehnt bzw. im Stich gelassen fühlt. Die leise, obgleich noch ganz unreflektierte Ahnung, wertlos und ungeliebt zu sein, beginnt in diesem Traurigsein zu keimen.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-91270-1_14

Full citation:

Kühn, R. , Titze, M. (1997)., Scham als reiner Affekt im Licht psychologisch- und radikal-phänomenologischer Reduktion, in R. Kühn, M. Raub & M. Titze (Hrsg.), Scham — ein menschliches Gefühl, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 189-201.

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