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137067

(1936) Methodenlehre der Sozialwissenschaften, Wien-New York, Springer.

Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe

Felix Kaufmann

pp. 204-218

Das Hauptproblem, von dem seit mehr als zwei Jahrtausenden die Analyse der sozialwissensKihaftlichen Begriffe ihren Ausgang zu nehmen pflegt, ist dasjenige des Verhältnisses zwischen den sozialen Kollektiven — insbesondere Gesellschaft und Staat — und den Menschen, die sie bilden. Dieses Problem wird durch folgende Überlegungen akut: Auf der einen Seite ist es klar, daß die Gesellschaft sich aus einer Mehrzahl von Menschen zusammensetzt und daß demgemäß nirgends eine Gesellschaft bestehen kann, wo nicht eine Mehrzahl von Menschen existiert. Auch sieht man leicht ein, daß es Menschen sind, die handeln oder leiden, wenn man davon spricht, daß die Gesellschaft handelt, bzw. daß ihr ein Übel zugefügt wird. Auf der anderen Seite aber steht die nicht minder deutliche Einsicht, daß eine Gesellschaft fortdauern kann, wenngleich viele, ja selbst alle ihrer früheren Glieder ausgeschieden sind und ganz oder teilweise durch andere ersetzt wurden. Insbesondere läßt sich darauf hinweisen, daß der gesellschaftliche Geist, wie er sich in der Sprache oder in den mannigfachen gesellschaftlichen Sitten manifestiert, den Wechsel der Gesellschaftsglieder in der Regel überdauert. So kommt es zu der antithetisch zugespitzten — und, wie wir erkennen werden, nicht eindeutig formulierten — Streitfrage, ob die Gesellschaft als 'soziale Ganzheit" ein prius gegenüber den jeweils in ihr verbundenen (auswechselbaren) Einzelmenschen sei oder ob umgekehrt von einem Primat der letzteren gegenüber der Gesellschaft, die sie bilden, gesprochen werden müsse. Man bezeichnet diese Streitfrage neuerdings als Kontroverse zwischen universalistischer und individualistischer Gesellschaftsauffassung.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-7091-6001-5_14

Full citation:

Kaufmann, F. (1936). Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, in Methodenlehre der Sozialwissenschaften, Wien-New York, Springer, pp. 204-218.

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