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218264

(2013) Historische Musikwissenschaft, Stuttgart, Metzler.

Musikwissenschaft als Kunstwissenschaft?

Tobias Janz

pp. 56-81

Von Sigmund Freud stammt die zum geflügelten Wort gewordene Erzählung von den drei schweren Kränkungen, die die »Eigenliebe der Menschheit« im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung der Wissenschaft über sich habe ergehen lassen müssen:1 Zuerst sprach Kopernikus der Erde den Status eines Zentralgestirns ab und rückte damit den Menschen aus dem Zentrum des Kosmos;2 dann reihte Charles Darwin den Menschen in die Kette der Evolution des Lebens ein und nahm ihm dadurch sowohl die kategoriale Differenz gegenüber dem Tier als auch die Gewissheit, die Krone der Schöpfung darzustellen; schließlich musste der Mensch in der Psychoanalyse noch die Erkenntnis hinnehmen, dass er nicht einmal Herr im eigenen Haus ist, sondern von überindividuellen Autoritäten und unbewussten Trieben in die Zange genommen und gesteuert wird. Kaum zufällig, wenn auch eher beiläufig, nahm Geoffrey Hartman in einem vor einigen Jahren erschienenen Essay über den Einfluss der Cultural Studies auf die Literary Studies Bezug auf Freuds kulturhistorische Kränkungen. Hartman konstatierte, dass sich die alte Literaturwissenschaft und die auf einem erweiterten Textbegriff basierende neue literarische Kulturwissenschaft wie das ptolemäische und das kopernikanische, ja sogar ein über dieses heliozentrische Weltbild hinausgehendes plurales Weltbild mit einer unendlichen Zahl von Welten und Sonnen gegenüberstünden.3 Einem Literaturwissenschaftler, für den die Differenz zwischen literarischen Texten und außerästhetischen Aktivitäten, der literarische Kanon und der Kunstcharakter der Literatur verbindliche Werte repräsentierten, musste es demnach einer vergleichsweise schweren Kränkung gleichkommen wie dem aus dem Zentrum des Kosmos gerückten Menschen in Freuds Erzählung, als (jüngere) Literaturwissenschaftler im Zuge des Cultural Turn begannen, diese Werte zu entmystifizieren, zu dezentrieren und sie dabei nicht selten als reaktionär zu bezeichnen.4

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-476-05348-0_4

Full citation:

Janz, T. (2013)., Musikwissenschaft als Kunstwissenschaft?, in M. Calella & N. Urbanek (Hrsg.), Historische Musikwissenschaft, Stuttgart, Metzler, pp. 56-81.

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