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220619

(2019) Handbuch kritische Theorie, Dordrecht, Springer.

Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie

Peter Bulthaup

pp. 1-6

Die bürgerliche Theorie ist wesentlich affirmativ, sei die adaequatio rei et intellectus nur kontemplativ oder auch praktisch, als Veränderung der res gefaßt. Das Resultat des Erkenntnisprozesses ist die Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand. Die Erkenntnis ist positive Theorie positiver Gegenstände, und das Subjekt des Erkenntnisprozesses befindet sich in dessen Resultat in Übereinstimmung mit sich und mit den Gegenständen. Von daher erscheint die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft unbegründet, denn diese setzt voraus, daß der autonom und vernünftig bestimmte Wille von den Gegenständen unabhängig sei, sich von ihnen unterscheide, was nur möglich ist, wenn diese Gegenstände heteronom sind. Heteronome Gegenstände unterstehen nicht der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Wenn diese als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ist, so ist kein heteronomer Gegenstand denkbar. Die Möglichkeit der Kritik der Heteronomie, die erst durch die Preisgabe der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, von Wissenschaft und Moral eröffnet wird, impliziert die Unmöglichkeit, den vernünftig bestimmten Willen affirmativ auf die Gegenstände der von ihm zu bestimmenden Handlungen zu beziehen. Die Entgegensetzung von Autonomie des vernünftig bestimmten Willens und Heteronomie der Gegenstände, auf die sich das vom Willen bestimmte Handeln richtet, ist aufgehoben in der affirmativen Theorie der Geschichte, in der Autonomie und Heteronomie als Momente des fortschreitenden historischen Prozesses erscheinen. Dieser Theorie zufolge ist die Tendenz des historischen Prozesses nicht durch die Vermittlung beider Momente bestimmt, sondern durch die fortschreitende Dominanz der Autonomie. So ist aus der Tendenz des historischen Prozesses der Widerspruch eliminiert, das moralische Bewußtsein kann sich affirmativ zwar nicht auf die nach wie vor heteronome Realität, wohl aber auf die Tendenz der historischen Entwicklung dieser Realität beziehen. Erkenntnisprozeß und historischer Prozeß stehen unter der Bedingung ihres Resultats, der sich durch sie herstellenden Identität, in der beide konvergieren. Diese vorauszusetzende Identität, die der bürgerlichen Theorie zufolge in der Tendenz des historischen Prozesses sich manifestiert, ist die Bedingung der Möglichkeit einer wenn auch nur mittelbar affirmativen Beziehung mit sich übereinstimmender Subjekte auf die Realität. Daß diese heteronom sei, gehört ebenso zu den Voraussetzungen des Geschichtsoptimismus wie die Affirmation der historischen Tendenz. Der Optimismus selbst ist erzwungen, denn er allein garantiert dem mit sich selbst übereinstimmenden subjektiven Selbstbewußtsein eine mittelbare Übereinstimmung mit der Realität, die begründet ist durch die Identifikation mit der Geschichte, einem objektiven Prozeß, als deren Subjekt die Bourgeoisie sich sah.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-658-12707-7_10-1

Full citation:

Bulthaup, P. (2019)., Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie, in U. H. Bittlingmayer, A. Demirović & T. Freytag (Hrsg.), Handbuch kritische Theorie, Dordrecht, Springer, pp. 1-6.

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