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199280

(2009) Sprache, Dordrecht, Springer.

Die Zukunft der deutschen Sprache

Jochen A. Bär

pp. 59-106

Ein Paradoxon frei nach Martin Luther: Die Sprache ist der Sprache größter Feind und tut ihr unablässig Schaden. Die Sprache ist der mächtigste Freund der Sprache und erhält sie allein.1 Denn spricht man nicht jeden Tag und hört man nicht andere sprechen, so geht einem die Sprache verloren. Wer längere Zeit im Ausland ist und keine Gelegenheit hat, seine Muttersprache zu üben, erfährt, dass sie ihm mit der Zeit teilweise abhanden kommt, dass sie sich aber unmittelbar wieder einstellt, sobald er sie hören und mit anderen sprechen kann. Nur die aktive Teilhabe an der Sprache erhält dem Einzelnen die Sprache. Er lernt sie nicht ein für allemal (und sei es als Muttersprache), um sie dann stets gleichbleibend zu beherrschen, sondern muss den Spracherwerb jeden Tag, ja jeden Augenblick im Kleinen wiederholen. Entsprechend verfügt jeder Mensch über einen ausgeprägten Nachahmungstrieb, um sich das ihm von allen Seiten Vorgesprochene und auch Vorgeschriebene immer wieder von Neuem anzueignen. Eben darin aber gründet die Wandelbarkeit der Sprache, denn was man im faustischen Sinne täglich erobern muss2, ist kein sicherer Besitz, sondern "wintschaffen" (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 15740), also schwankend und keinen Augenblick sich selbst gleich. Wer, um bei der Sprache zu bleiben, anderen nachspricht, die ihrerseits anderen nachsprechen, die ihrerseits... — der bleibt bei der Sprache, ohne bei der Sprache zu bleiben, denn die Sprache, bei der er bleibt, bleibt nie dieselbe Sprache.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-00342-4_3

Full citation:

Bär, J. A. (2009)., Die Zukunft der deutschen Sprache, in E. Felder (Hrsg.), Sprache, Dordrecht, Springer, pp. 59-106.

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