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220112

(1999) Fernsehgewalt, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Attraktivität der Gewaltbeobachtung

Jürgen Grimm

pp. 367-417

Paradoxerweise setzt sich tagtäglich ein Millionenpublikum in der Fernsehunterhaltung Situationen aus, denen es im "wirklichen" Leben nicht begegnen will. Mord, Totschlag und Katastrophe versprechen Nervenkitzel nur, solange man davon nicht selbst betroffen ist. Wie ist diese eigentümliche Metamorphose zu erklären, die hochaversive Situationen in Unterhaltungssettings verwandelt? Der Anteil von Fernsehgewalt am Gesamtprogramm liegt zwar bei nur drei Prozent Zeiteinheiten,342 doch dürften die praktischen Erfahrungen mit Schießereien und Verfolgungsjagden, mit Kämpfen auf Leben und Tod im lebensweltlichen Alltag der meisten Menschen noch erheblich niedriger liegen.343 Gewalt ist in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit ein Ausnahmefall mit einer Auftretenswahrscheinlichkeit noch jenseits der Promillegrenze. Falls der Fall der Fälle eintritt, ist er allerdings für die betroffenen Opfer und die kriminellen Täter von existentieller Tragweite. Der hohe Anteil von Gewaltdarstellungen im Fernsehen ist also nicht einfach "Spiegel der Realität". Er ist vielmehr Ausdruck eines Konfrontations- und Thematisierungsbe-darfs, der Wirklichkeitsbezüge durch Möglichkeitsentwürfe übersteigt. Das Fernsehen bietet neben dokumentierter "realer" Gewalt im Rahmen von Nachrichtensendungen und Reality TV-Shows ein großes Sortiment fiktionaler Gewaltszenarien an, welche die überschießenden Beschäftigungsbedürfnisse des großen Publikums bedienen. Da dem Lebensweltsubjekt Ort und Zeitpunkt des gewalttätigen GAU's unbekannt und gegebenenfalls die Konsequenzen unabsehbar sind, erscheint ein vorsorgliches Befassen mit dem Unwahrscheinlich-aber-Möglichen schon in "friedlichen" Zeiten geboten, sei es, um die Angst mit Vorstellungsbildern zu füttern, sei es, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Gewaltdarstellungen in Spielfilmen können noch genauer als "widerständige"344 Dokumentationen auf das Möglichkeitsdenken der Rezipienten zugeschnitten werden, in dem sich die Vorstellung, in eine "ähnliche" Situation geraten zu können, mit der Gewißheit paart, diesmal nicht selbst den Risiken einer Verletzung ausgesetzt zu sein. Bei den Analysen zur Attraktivität der Gewaltbeobachtung unten ist zu berücksichtigen, daß Gewaltmodelle auch dann, wenn sie "real" existieren, aus der Sicht des unbeteiligten Beobachters ein Möglichkeitsszenario darstellen, das ihn nicht leiblich, sondern allenfalls symbolisch affiziert.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-83252-8_9

Full citation:

Grimm, J. (1999). Attraktivität der Gewaltbeobachtung, in Fernsehgewalt, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 367-417.

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