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220183

(2009) Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Literature and Literacies

Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität

Wolfgang Hallet

pp. 53-80

Wenn es zwei Begriffe gibt, die man sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann, dann sind es ,Literatur" und ,Standardisierung". Wo, wenn nicht in der Literatur, werden sprachliche, kulturelle und gesellschaftliche Normen und Standardisierungen kritisch befragt, in ihrer Fragwürdigkeit thematisiert, in ihrer Gültigkeit bezweifelt und in ihrer Schädlichkeit für das Individuum dargestellt? Wo, wenn nicht in der Literatur, werden wir unmittelbar Zeuge der zerstörerischen Kraft starrer gesellschaftlicher Setzungen, der Kollision alles Individuellen mit dem Kollektiven, der Auseinandersetzung des Einzelnen mit gesellschaftlichen Kräften und der befreienden Kraft der Aufhebung sozialer Zwänge? Es trifft daher uneingeschränkt zu, was zahlreiche literaturtheoretische Ansätze postulieren: dass die Literatur das Imaginäre, das Fiktionale, das nicht Erlebte gerade deshalb verkörpert, weil sie das Andere einer auf Konventionen und Standardisierungen beruhenden Wirklichkeit und ihrer Erstarrungen darstellt. Eines der Wesensmerkmale der Literatur liegt gerade in ihrer Widerständigkeit gegenüber allen Vereinnahmungsversuchen durch die Lebenswelt, in ihrer Fähigkeit zum Gegenentwurf und in ihren Funktionen als "imaginativer Gegendiskurs", als "kulturkritischer Metadiskurs' (Zapf 2005: 67), und als Interdiskurs zur "Reintegration des Verdrängten mit dem kulturellen Realitätssystem" (Zapf 2005: 71). Letztlich ist es, wie es uns alle poetisch-lyrische Sprache vor Augen führt, genau diese Entgegensetzung, diese Heraushebung aus allem Gewohnten und Geläufigen, aus dem als normal Erfahrbaren und bereits Erfahrenen, die den Antrieb aller Literatur bildet. Insofern sind alle literaturdidaktischen Überlegungen zutreffend, die in der Hinführung junger Menschen zum Anderen der Wirklichkeit, zur Überwindung des Denkens in deren engen Grenzen und den besonderen sprachlich-ästhetischen Arrangements literarischer Texte den Kern literarischer Bildung sehen. In der Tat stellt insofern das Spezifische literarischer Texte, also die Darstellung fiktionaler Welten in einer nichtalltäglichen Sprache und Form als symbolische Überwindung von Normalität immer bereits einen Gegensatz zu allen Standardisierungsbestrebungen dar.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-531-91962-1_3

Full citation:

Hallet, W. (2009)., Literature and Literacies: Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität, in C. P. Buschkhle, L. Duncker & V. Oswalt (Hrsg.), Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 53-80.

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