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217758

(2002) Wahn Welt Bild, Dordrecht, Springer.

Der blinde Fleck der Gestalt

Prinzhorns Formalismus

Beat Wyss

pp. 17-29

Wer 1922 über die inhaltliche Ausbeute von Zeichnungen der Geisteskranken enttäuscht war, verkennt Prinzhorns Motive, in dieser Hinsicht vorsichtig zu sein. Er hütete sich vor dem Applaus der falschen Seite. Leider sollte der Autor recht bekommen: Die Sammlung Prinzhorn verdankt ihr Überleben in der Nazizeit dem Umstand, dass die Bestrebungen des Psychiaters genau von dessen befürchteten Missverstand abgeholt wurden. Prinzhorns Blick auf die Zeichnungen der Geisteskranken ist absolut modern, sofern er sie nicht ikonografisch, sondern produktionsästhetisch betrachtet. Seine Grundgedanken gehören zum Fundus avancierter zeitgenössischer Anschauungen über Kunst. Die markantesten Übereinstimmungen finden sich bei den Stiltheoretikern und Formalisten wie Konrad Fiedler, Alois Riegl und Wilhelm Worringer.Es liegt keine Schwäche im analytischen Ansatz vor, sondern eine Denkgrenze wird erkennbar: Das moderne Wissen kann Leben nur beschreiben, indem es dessen Impulse aufzeichnet. Erklären kann es sie nicht. Der Verzicht auf klassifizierende Deutung der Ausdrucksformen entspricht moderner Linguistik, die nicht Inhalte, sondern Struktur untersucht, sich nicht für die Aussage, sondern für den Sprechakt interessiert. Parallel dazu besteht das moderne Bild aus einer Ausdrucksbewegung, die als Spur nicht auf einen Referenten zeigt, sondern auf den Signifikanten. Das moderne Bild steht unter der Dominanz des ‚Index" im Sinne von Charles Peirce. Vergleichbar dem Seismographen eines Erdbebens, ist die Hand des Geisteskranken das Medium seiner Erregungen, die auf dem Blatt Papier eine absolute Spur hinterlässt. Nicht was, sondern nur dass ihn was bewegt, ist Thema der Bildnerei.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-55719-4_3

Full citation:

Wyss, B. (2002)., Der blinde Fleck der Gestalt: Prinzhorns Formalismus, in T. Fuchs, I. Jádi, B. Brand-Claussen, C. Mundt & H. Kiesel (Hrsg.), Wahn Welt Bild, Dordrecht, Springer, pp. 17-29.

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