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220112

(1999) Fernsehgewalt, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Korrespondenzen von Medien und Gewalt

Jürgen Grimm

pp. 24-56

Nach einer simplen und weit verbreiteten Wirkungstheorie tragen Medien, insbesondere Gewaltdarstellungen in Fernseh- und Videoprogrammen, dazu bei, daß die Gesellschaft zunehmend verroht. Dabei wird gerne auf die gestiegene Brutalität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verwiesen, die sich zwar nicht klar in den offiziellen Kriminalstatistiken widerspiegelt, aber von Lehrern, Eltern und anderen besorgten Pädagogen jederzeit abrufbar durch Einzelbeispiele belegt werden kann. So kommt Der Spiegel am 17. Januar 1994, just zum Prozeßbeginn im Mordfall Sandro Beyer, mit einer Titelstory zur Jugendgewalt heraus, in der eine Liste derjenigen Gewaltvideos abgedruckt ist, die die halbwüchsigen Mörder des 15jährigen Sandro bevorzugt konsumierten. In einem Gemisch aus Satanskult, Horrorfilmen und Black Metal-Musik waren die Cliquen-Mitglieder um den postpubertären Sebastian S. offenbar zu bestialischen Gewalttätern mutiert, die am 29. April des Jahres 1993 im kleinstädtischen Sonderhausen einen "Ritualmord" begingen. Sebastian und seine Gruppe galten in Sonderhausen seit Jahren als "Spinner", die sich selbst "Kinder des Satans' nannten und martialische Mutproben zur Aufnahme in ihren "Geheimbund" veranstalteten. Horrorvideos gehörten zum regelmäßig geübten Wochenendvergnügen. "Ich weiß, daß er Lust hatte, auch mal auszuprobieren, was er da sah", erzählte Sebastians Freundin Journalisten, um Hintergründe der Mordtat zu erhellen (Nordhausen&Billerbeck 1993). Aber warum mußte es Sandro treffen? Ursprünglich stand ein Neonazi-Führer auf der Abschuß-liste, wie aus schriftlichen Bekundungen der Täter hervorgeht. Doch Sandro, der sich vergeblich um die Gruppenmitgliedschaft bemühte, hatte durch Klatsch über die mit Sebastian befreundete Katechetin Kirsten F. die "Satanskinder" provoziert. Der Konflikt eskalierte bis zum fatalen Höhepunkt im Wald, wo Sandro nach bekanntem Muster aus Horrorfilmen gefoltert und mit einem Kabel erdrosselt wurde. Diesmal schien, so Liane von Billerbeck und Frank Nordhausen, 'schwarz auf weiß belegt, was ganze Generationen von Wissenschaftlern schon hin und her gewendet haben: Gewalt in Film und Fernsehen führt zu Mord und Totschlag. Der" satansmord" von Sonderhausen — ein Videomord, nach filmischer Vorlage?" (Billerbeck&Nordhausen 1994b: 236). Das Presseecho zur Gerichtsverhandlung war enorm. Je länger der Prozeß dauerte, desto monströser wurde das öffentliche Bild der Angeklagten. Zur Freude der Journalisten, aber gegen die eigenen Interessen bedienten Bandenchef Sebastian S. und sein Kumpan Hendrik M. alle Medienklischees über Satanismus und Horrorfilmkonsum (Billerbeck&Nordhausen 1994a), die plausibilisierten, daß die Überschreitung der Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit fast zwangsläufig erfolgte.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-83252-8_2

Full citation:

Grimm, J. (1999). Korrespondenzen von Medien und Gewalt, in Fernsehgewalt, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 24-56.

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